Eine unteilbare, nicht mitteilbare Welt

Für das Abschlußstück des Theaterkurses wurde eine Skulptur benötigt, sie war für die Handlung von großer Bedeutung; ohne sie hätte das Stück keinen Sinn gehabt.Ich stand vor der Herausforderung, diese Skulptur zu schaffen. Es war eine wunderbare Aufgabe und eine Möglichkeit, neben der kleinen Rolle und dem Bühnenbild noch eine entscheidende Funktion zu übernehmen. Aber gleichzeitig hatte ich Angst, an meine Grenzen zu stoßen, Angst, der Herausforderung nicht gewachsen zu sein. Diese Angst war groß, so groß, daß ich mich nicht traute anzufangen.Ich zögerte alles immer länger hinaus, suchte nach anderen Darstellungsmöglichkeiten und ließ die Zeit verstreichen. Mein Lehrer wies immer eindeutiger auf das näherrückende Datum. Er besorgte eine abgebrochene Marienfigur, um eine Ausweichmöglichkeit zu haben.In Wirklichkeit standen die beiden Styroporklötze immer noch unberührt auf dem Dachboden.Als die Zeit soweit vorgerückt war, daß die Katastophe unausweichlich schien, machte ich mich halbherzig an die Arbeit. Ich saß auf kaltem Dachboden in einer Styroporkrümeldüne vor einem Kloß, von dem ich nicht wußte, was daraus werden würde; ich hatte Zeichnungen als Vorlage, aber nie den "Lesenden Klosterschüler" von Ernst Barlach gesehen, den es nachzuschaffen galt.Ich schnipselte und bröselte vor mich hin, ein bißchen hier, ein bißchen da... - unmerklich kam etwas in Bewegung: In mir regte sich etwas! Ich geriet in die Arbeit, vergaß das Bröseln und Schnipseln, die Kälte - und meine Angst. Das Denken war weg, ich kontrollierte nicht mehr. Plötzlich saß ich jemandem gegenüber; er hatte noch kein Gesicht, noch keine Füße, aber er hatte etwas anderes, und ich hatte das gleiche. Es war eine Beziehung zwischen uns, eine Spannung, die in der Erkenntnis über mich selbst ruhte. Und dann sprach ich unwillkürlich mit ihm. Ich weiß nicht, was ich sagte, aber es scheint mir, als hieß ich ihn willkommen, meinen lesenden Freund.Es war nicht so, daß ich nun keine Schwierigkeiten mehr hatte, während der nächsten 5 Tage mußte ich mehr davon lösen als in der Zeit davor, doch ich wußte wofür, und es schien, als helfe er mir dabei.Als ich fast fertig war, begann ich wieder zu zweifeln, nur der Mangel an Zeit unterdrückte meine Zweifel, und ich brachte den Klosterschüler in die Schule. Ich ließ ihn auf der Bühne alleine, es war mir unangenehm, ihn vorzustellen. So konnte er sich mit jedem selbst bekanntmachen. Das Geheimnis seines Erfolges waren wohl die Steine, die von vielen Herzen fielen, als endlich dieser "Hauptdarsteller" eingetroffen war. Er wurde von allen angenommen und im Spiel (z. B. bei Monologen) ihr vertrauter mitwirkender Partner.Ich war stolz und glücklich. Ich hatte eine Wirklichkeit erfahren, die nichts gemein hatte mit der Wirklichkeit, die mir im Unterricht gezeigt worden war, und nichts mit der, in der ich mich als Schüler unter Schülern bewegte: eine unteilbare, nicht mitteilbare Wirklichkeit - meine Wirklichkeit. Die Ahnung dieser Wirklichkeit ließ eine andere Ahnung zur Gewißheit werden: seitdem will ich im Theater meine Wirklichkeit finden. Der Klosterschüler ist die erste Verkörperung dieser Wirklichkeit und jetzt bei dem Menschen zu Hause, der mit grundlegendem Maß Einfluß auf meine Wirklichkeit genommen hat. Der Klosterschüler nahm mir die Angst vor dem Selbstversuch, doch fast zugleich gab er mir eine neue Angst; eine Angst, die mein Vater mir deutlich machte, indem er nach der ersten Aufführung zu mir kam und - mir kannst du es doch sagen - fragend meinte, daß ich diese Figur doch nicht selber gemacht hätte. Es ist die Angst, daß meine Wirklichkeit von denen, die mir wichtig sind, nicht erkannt werden könnte.Als danach gefragt wurde, über eine persönliche Erfahrung während meiner Schulzeit zu schreiben, habe ich zugesagt, obwohl ich nicht gern schreibe. Im Geschriebenen kann ich das, was ich zum Ausdruck bringen möchte, nicht sehen oder anfassen; Sprache ist mir zu eindeutig.Aber vielleicht wird manchem bewußt, was ich meine: was Schule im besten Fall bringen kann, und wo ihre Grenzen sind. Sie kann uns einen Teil der Angst vor der Suche nach uns selbst nehmen. Aber nie wird sie in all ihren Fächern erfolgreich sein. Ihr größter Erfolg ist es, wenn sie den Menschen im Schüler erreichen kann.Moritz Müller (Abi 90)