Fürs Leben gelernt

Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir - nichts könnte das besser zusammenfassen, was ich in meiner siebenjährigen Siemens-Laufbahn, die ich vor fünf Jahren abschloß, neben einer Menge theoretischen Rüstzeugs durch gerade die kleinen Ereignisse am Rande des Schulalltags erkennen konnte.All die großen Theoretiker, die keine Zeit an die Praxis verschwenden, könnten mir nur leid tun, denn das Leben ist mindestens zur Hälfte Praxis. Praxis ist der Umgang mit unserem Umfeld, mit unserer Umwelt und vor allem mit Menschen. Wie wichtig ist es für einen Schüler, zu sehen, daß sich ein Lehrer auch in seine Probleme hineinfühlen kann, wie es zum Beispiel einer meiner Chemie-Lehrer tat. Er half uns, unser aufgestautes Adrenalin samt Aggression abzubauen, die sich nach einer schwierigen, langen Klausurstunde angesammelt hatten und die natürlich jede Konzentration auf Chemie unmöglich machten. Ganz nach dem Motto "Mens sana in corpore sano" lief er mit uns eine Runde um den Sportplatz - das war genau das, was wir brauchten: frische Luft ins Gehirn! Dieses notwendige Einfühlungsvermögen zwischen Menschen hilft mir heute nicht nur im Umgang mit meinen englischen Schülern. Den letzten Schliff, durch den ich die mir seitdem immer nützlichen Regeln "Keine Angst vor großen Tieren" und "Vertrauen ist gut, Kontrolle besser" lernte, bekam ich durch die erste ernsthafte Auseinandersetzung mit schulischer Bürokratie. Natürlich sind wir alle Menschen und machen Fehler, wer sollte dies wohl nicht verzeihen? Doch gerade manche Lehrer werden ungern von ihren Schülern daran erinnert. Meine schriftlichen Abiturarbeiten im deutschen und englischen Leistungsfach waren ohne Zweifel der gekrönte Abschluß meiner Schulzeit.Was Wunder, wenn ich diese Werke gerne in meinem Aktenordner hätte! Als ich diesen Wunsch nach der Korrekturzeit und Notenvergabe jedoch artikulierte, stieß ich bei den verantwortlichen Lehrerinnen und Lehrern auf großes Erstaunen, Unverständnis und Aber-wo-denken-Sie-hin-Gesichter ob meiner bizzaren Vorstellung. Offenbar war ich die erste Schülerin, die das Verlangen nach Rückgabe ihres geistigen, von eigener Hand geschriebenen Eigentums hatte. Und ich sollte auch die erste sein, die wenig befriedigende Antworten des Lehrkörpers diesbezüglich anzweifelte:"Das haben wir ja noch nie anders gemacht, das war schon immer so, da könnte ja jeder kommen! Die Arbeiten können Sie einsehen, dann müssen wir sie für eine Weile aufbewahren, und dann kommen sie in den Reißwolf. Das ist Vorschrift!" Empört, wie ich war (schließlich kann ich die Arbeit sogar jetzt für mein Deutsch- und Englisch-Studium gut gebrauchen), schrieb ich einen offenen Brief an Frau Dr. Laurien (damals Schulsenatorin) und veröffentlichte ihn in der Steglitzer Jugendzeitschrift "Prometheus", 3.Ausgabe Oktober 1987, um gegen diese unbegründete Vorschrift zu protestieren und Unterschriften von Gleichgesinnten zu sammeln. Läßt man gegenüber den Regierungsorganen nur das Wort "Presse" fallen, kann man mit sofortiger Reaktion rechnen. Es meldete sich prompt per Telefon ein Herr aus dem Senatorinnen-Büro, der mir erklärte, daß ich nach 10 Jahren Lagerung selbstverständlich meine Arbeit zurückerhalten könnte. Meine Schule wäre da wohl schlecht informiert gewesen. Jedoch hätte ich, bitte schön, nicht gleich so einen öffentlich Wirbel machen sollen. Ein Anruf beim Schulsenats-Büro hätte mir genug Auskunft geben können. Ich dürfte es nun nicht versäumen, gleich eine Gegendarstellung zu bringen, während er ein Aufklärungsschreiben an die Verantwortlichen meiner Schule senden würde.- Die Gegendarstellung verfaßte ich sofort, aber ignorierte bis heute die Bitte, keinen Wirbel zu machen, denn Wirbel ist das einzige, was wirksam gegen Bürokratie hilft. Wahrscheinlich haben mich manche Lehrer nun in unangenehmer Erinnerung. Deshalb möchte ich es nicht versäumen, mit den herzlichsten Grüßen für die Siemens-Gymnasiums-Jubelfeier auch auf mein Jubiläum dies Jahr hinzuweisen:Es ist Halbzeit! In fünf weiteren Jahren stehe ich vor der Sekretariatstür, um meine Arbeiten abzuholen. Und wehe dem Reißwolf, der da Zähne an sie legen will.Gundula A. Miethke (Abi 87)