Vor zwei Tagen haben die Russen die rote Sowjetfahne überm Kreml eingeholt. Über fünfzig Jahre hat sie dort geweht, von kleinen Winddüsen angebläht zum ewigen Rattern im Wind. Als ich dies im Fernsehen sah, sind mir so viele Bilder wieder hochgekommen von unserer Sowjetunionreise über Sylvester 1984. Ich habe kein Photo, kein Tagebuch von dieser Reise, nur die Bilder meiner Erinnerung - Momentaufnahmen von einem Reich, das so nicht mehr existiert. Keiner von uns Geschichtsleistungskurslern, die sich nach dem Abitur im Dezember 1983 entschlossen mit unserem Lehrer Herrn Lucke noch eine gemeinsame Reise in die ferne Sowjetunion zu unternehmen, hätte wohl damals gedacht, daß diese acht Jahre später "Geschichte" sein würde.Mächtig erschien dort alles, fremdartig, straff organisiert und ein bißchen unwirklich:- Der Rote Platz im nächtlichen Schneetreiben, rot leuchtende Sterne über der Kremlmauer. Eine Menge dick vermummter Russen, die schweigend dem Wachwechsel vorm Leninmausoleum zusahen, einzige Laute der Marschschritt auf knirschendem Schnee. - Das Gum Kaufhaus mit seinen riesigen steinernen Gängen und Arkaden in kühlem Neonlicht, leere Regale, fünf Knäuel Mohairwolle auf einem Teller, ein Nerzmantel und neugierige Gesichter, vor der Schuhabteilung eine Schlange.Galia mit der goldblonden Turmfrisur und dem warmen Lächeln, begleitete uns als Reiseführerin für zehn Tage. In ihrem perfekten Deutsch hat sie uns fast alle Fragen beantwortet und sollte dafür später in Schwierigkeiten kommen (Sechs Monate später mußte sie wegen zu intensiver Westkontakte Moskau verlassen, ihren Beruf als Reiseleiterin aufgeben und in ihre Heimatstadt Vladimir zurückkehren).Organisiertes Programm: Stadtbesichtigung, Museen, Galerien, Staatszirkus, Ballett, aber zwischendurch immer wieder die Möglichkeit zu Stadtbummel und Erkundungstouren allein oder zu zweit. Ernüchterung einer Mitschülerin, die im Moskauer Zentrum eine alte Straße fotografierte und sich plötzlich von drei aus der Menge aufgetauchten Zivilpolizisten umringt sah, welche ihr die Kamera vom Hals rissen und den Film entfernten: sie hatte eine Straßenbahn im Visier gehabt - Fotografieren militärischer Einrichtungen strengstens verboten...Ausflug nach Nowgorod, dem berühmten alten Kloster: hohe weißgetünchte Mauern in einer verschneiten Landschaft, von blauen und goldenen Zwiebeltürmen überragt; in den Kapellen kleine alte Mütterchen in Filzmäntelchen, die sich langsam in die Knie zwingen, um den Boden zu küssen; bärtige junge russisch-orthodoxe Mönche, deren Gesänge bewegen.Nie habe ich seitdem so zutiefst gläubige und demütige Menschen gesehen...Besuch des Ausstellungsparks "Errungenschaften des Sowjetsozialismus": Stalinistische Prunkbauten, verziert mit vergoldeten Darstellungen der Arbeiter- und Bauernideale. Über dem riesigen Gelände allgegenwärtige leise Marschmusik aus Lautsprechern, leicht lila getöntes Flutlicht gab dem ganzen einen unwirklichen Charakter und zum ersten Mal fühlte ich mich beklemmt und an Orwell erinnert.Dann die nächtliche Zugfahrt von Moskau nach Leningrad - eine kleine Ahnung von den immensen Entfernungen und der Einsamkeit und auch von der Armut, als wir die verstreuten, aus Holzhütten erbauten Siedlungen in der tief verschneiten Nacht vorbeifliegen sahen.Organisierte Begegnung und Austausch mit sowjetischen Jugendlichen in einem Kulturheim: Deutsch sprechende und politisch gefestigte "ältere Jugendliche", die uns mit glatten Phrasen langweilten. Lieber hätten wir uns mit den anderen wirklichen Jugendlichen unterhalten, die ein liebevolles, fast rührendes Programm mit Tänzen und Gesang vorbereitet hatten. Unser Beitrag: Kugelschreiber, Berlin-postkarten und Seidenstrümpfe...Leningrad, nun wieder St. Petersburg, mit Eremitage, dem Winterpalais, seiner wunderschönen Architektur und Kunst, der Newa und den vielen Kanälen belebte alle Vorstellungen über das zaristische Rußland und Raskolnikows Umgebung...Den meisten von uns hat wohl Leningrad besser gefallen. Ich fand Moskau faszinierender, fremder, östlicher, rauher - Verkörperung der Sowjetmacht. Wir waren damals alle begeistert von diesem beeindruckenden Abschluß unserer gemeinsamen Geschichtleistungskurszeit. Eine neue Wertung erfährt dieses Erlebnis durch die jüngsten politischen Ereignisse: Wir haben einen Staat besucht, den es nicht mehr gibt.Catharina Luhr (Abi 83)