1922 in Weimar

Meine Schulzeit begann 1914 und dauerte bis 1924; allerdings konnte man in der Lehwess-Schule kein offizielles Abschlußzeugnis bekommen, da sie eine Privatschule war. So kam unsere Klasse für das letzte Schuljahr nach Grunewald in das Bismarck-Lyzeum.Unsere Lehrerinnen in Nikolassee waren teils adlige Damen, z.B. meine erste Klassenlehrerin Frl. von Manstein. In späteren Jahren hatten wir Frau Lehwess als Klassenlehrerin, die uns mit ihrer großen Klugheit und ihrem tiefen Wissen leitete, uns allen eine gute Einführung in die deutsche Geisteswelt gab. Frau von Türkheim war unsere Gesangslehrerin, die uns mit ihrer Tonika-Do-Methode, die damals noch recht unbekannt war, eine interessante Grundlage zum Verständnis der Musik vermittelte. Sehr eindrucksvoll waren auch unsere Zeichenstunden bei Prof. Sandkuhl. Er war ein Kollege meines Vaters, der ihn auch der Schule empfohlen hatte. Er ging mit unserer Klasse z.B. an die Rehwiese und ließ uns malen, was wir sahen, Pflanzen, Blumen, Kräuter, Pilze, Bäume und Landschaften. Ich erinnere mich noch an Herbst- und Wintertage, wenn man früh am Morgen auf der Rehwiese noch die Rehe beobachten konnte, die sich dort offenbar sehr wohl fühlten.Unvergeßlich ist mir die Reise, die Frau Lehwess mit unserer Klasse 1922 nach Weimar unternahm. Wir besuchten das Schillerhaus, beide Goethehäuser, das Haus von Frau von Stein und das Liszthaus. Der letztgenannte Besuch war für mich besonders wichtig in meiner Entwicklung zu meinem späteren Beruf als Pianistin. Es empfing uns Pauline, Liszts Hausdame: eine eindrucksvolle stattliche Dame in schwarzem Taftkleid mit kleinem weißen Kragen, schönes weißes Haar, strahlendes Lächeln. Sie führte uns in das berühmte Musikzimmer, wo alles wie unberührt seit des Maestros Zeiten wirkte. Pauline pflegte das Haus und hielt es weiter so, wie Liszt es geliebt hatte. Der Flügel war geöffnet, der Stuhl davor, auch der große Sessel, um den der Maestro seine Schüler versammelt hatte. Ein tiefgehendes Erlebnis für mich.Auch der Besuch bei Frau Elisabeth Förster-Nietzsche ist mir in guter Erinnerung. Sie war eine alte Freundin von Frau Lehwess und empfing uns alle in ihrem Salon zum Tee. Am Abend führte uns Frau Lehwess in die Oper, wo ich in Wagners "Tannhäuser" mein erstes, unvergeßliches Opernerlebnis hatte.So sehr weit das alles zurückliegt - wie in einer anderen Welt -, ich denke gern an die schöne, warme, aufbauende Zeit in der Lehwess-Schule zurück und verdanke ihr viel.Brigitte Wild, London